Uelzen 47 km
Schilder kündigen gleichermaßen die Fremde an oder die Heimat. Je nach Richtung. „Landesgrenze" steht (noch) auf einigen Schildern im Bodensee-Dreieck von Schweiz, Österreich und uns. Solche Schilder lassen beim Verlassen des eigenen Landes das Herz höherschlagen (meines jedenfalls) von wegen Abenteuer-Ferne-Fremde. Und bei der Rückkehr in die Heimat schlägt es noch mehr (meines jedenfalls) von wegen der Aufregung darum, ob das vertraute, geliebte Zuhause auch noch so vertraut und geliebt (und mich liebend) sein mag. Seit die Staatsgrenzenschilder immer mehr verschwinden (bis auf die vom Freistaat Bayern) bekommen die Stadthinweisschilder diese Bedeutung. Ein Hamburger sieht seine Heimat-Weltstadt bereits aus Richtung Süden kommend gleich nach Frankfurt angekündigt und sein heimatlicher Herrschaftsbereich beherrscht bereits seine Seele (würde bei mir so sein, wenn ich Hamburger wäre). Ich komme aber nur aus dem Landkreis Uelzen. „Hannover" ist - im Vergleich zu Hamburg und „Landeshaupt-stadt" hin oder her - wesentlich unauffälliger und auch Hannoveraner müssen längere Strecken fahren, bis sie beherrschende oder liebende Gefühle entwickeln können. Ich komme nur aus Uelzen. Mein armer lokalpatriotischer Herzschlag muss mit jener sehnsüchtig-süßen Erregungskurve nach oben warten bis ich aus Süd - hinter Braunschweig bin. Oder aus Nord - hinter Lüneburg, Aus West hinter Soltau. Dies Celle - unmittelbare Nachbarschaft missachtet am meisten. Da liest der verbitterte Uelzener Kreispatriot kein einziges Schild mit „Uelzen". Nur klein plakatiert unter „Lüneburg" stehen wir. Oder unter „Braunschweig". Uelzen gibt es auf Schildern im weiteren Umfeld nur „unter" oder ,,neben" oder „auch". In der psychischen Bedeutungsskala rangieren wir sowieso immer hinten. Aber: Das alles ist Vergangenheit. Uelzen ist schlagartig vorn. Ganz vorn. Vor Lüneburg. Jawohl - das letzte neue fertiggestellte Teilstück der Autobahn Lüneburg und Maschen hat uns den Sprung ganz nach vorne verschafft! Denn gleich nach dem Kreuz Maschen (davor geben die Lüneburger noch an) - beginnen wir nun. Jawohl - unzweideutig taucht das blaue BAB- Schild mit dem liebsten Schriftzug aus der dunklen fremden Nacht auf: Uelzen - 47 km! Und wir sind einsame Spitze, denn kein anderer Name prangt im Nebel, im Dunkel, im Dämmern als nur der unsrige! Uelzen ja, du bists! Ich liebe nicht einfach diese Beförderung. Ich liebe, daß Uelzen nun einen Vorposten hat, einen Stellvertreter, ein Symbol, welches Geliebte und Geliebtes, Vertrautes und Bequemes, die letzte Kurve im Dorf zur eigenen Höhle schon. präsent sein lässt - obwohl noch 47 km entfernt. Ich brenne auf weitere Autobahnbauten. Zum Beispiel beim Streckenabschnitt der BAB zwischen Uelzen und Berlin. Da haben wir die nächste Chance. Da können wir unser Schild so platzieren, daß gleich hinter Berlin dasselbe passiert wie jetzt hinter Maschen, also gleich direkt hinter Hamburg: Uelzen ist schon da. Vor allen präsentiert es sich jetzt, bei denen wir bisher darunter oder dahinter waren.
22. Februar 1996